15. September 2023
15. September 2023
Amerika ist nicht mehr der dominierende Dompteur in der Welt-Manege, vor dem alle brav Männchen machen. Doch auch China kann sich nicht wie erhofft als neuer Zuchtmeister etablieren. Der letzte G20-Gipfel in Indien zeigt, dass die geopolitischen Machtverhältnisse deutlich bunter werden und sich Freund-Feind-Schemata schnell verändern können. Permanenter Pragmatismus und Anstrengung sind gefragt, um international mitspielen zu können.
China hegte lange Jahre die Illusion, dass seine wirtschaftliche Super-Kraft reibungslos in geopolitische Stärke mündet, die schließlich auch Amerika vom Thron stößt. Der Westen verstärkte diese Einschätzung noch, indem er sich an Chinas billigen Produktionskapazitäten und schier endlosen Absatzmöglichkeiten labte. Die Kehrseite war eine immer größere Abhängigkeit der Industrienationen von China. Nicht zuletzt, mit den hohen volkswirtschaftlichen Erträgen baute China seine neue Seidenstraße auf, die dem Land über massive (Infrastruktur-)Investitionen großen Einfluss auf (Rohstoff-)Länder des globalen Südens sicherte.
Doch spätestens mit der Corona-Pandemie, die zu dramatischen Wirtschaftseinbrüchen führte, wuchs in den begünstigten Ländern die Angst, in die chinesische Schuldenfalle zu tappen und sich damit an China verkauft zu haben. Ohnehin muss China seine Ausgaben für sein One Belt, One Road-Projekt zurückfahren.
Die Wirtschaftskraft gibt es nicht mehr her. Die Binnenkonjunktur und vor allem der Immobiliensektor sind zusammengebrochen wie ein Kartenhaus nach dem Windstoß. Unzählige gutgläubige Häuslebauer haben ihr Geld und damit ihre Altersvorsorge verloren. Hinzu kommt eine sozialistische Planwirtschaft, die Konjunkturprobleme so wenig lösen kann wie Bonbons Kopfschmerzen.
Nicht zuletzt sorgt der Technologiekrieg zwischen den USA und China für Reibungsverluste. Im Sinne einer Retourkutsche für US-Sanktionen bei High-Tech-Gütern täte es Apple sicher sehr weh, wenn die Staatsführung öffentlichen Angestellten die Nutzung von Apple-Produkten verbietet, die im Extremfall auch zu dramatisch negativen Streueffekten bei der privaten Nutzung führten.
Gut gebrüllt Löwe bzw. - treffender formuliert - gut gefaucht Drache, aber China sollte über den Tellerrand von Mütchen kühlen schauen. Es schneidet sich damit selbst in den Finger. Immerhin hat Apple bis zu fünf Millionen Jobs in der Volksrepublik geschaffen. Diese fallen weg, wenn Apple gezwungen ist, seine Produktionsstandorte nach Thailand und Vietnam zu verlagern. Zur Verringerung der Abhängigkeit von China findet ja sowieso bereits ein allgemeiner Wegzug statt. Und im Vergleich zu anderen ist der chinesische Industriestandort auch nicht wirklich ausländerfreundlich.
Insgesamt wankt der chinesische „Gesellschaftsvertrag“, wonach die KP zwar die totale Kontrolle über alles hat, dafür aber der Bevölkerung im Gegenzug Wohlstand, Brot und Spiele verspricht. Leider jedoch könnten Teile der gut ausgebildeten jungen Generation, die bislang nur sozialen Aufstieg, Karriere und Wohlstand kannten, zur Generation Hoffnungslosigkeit werden. Für die soziale Stimmung ist das eine Katastrophe.
Vor diesem Hintergrund war es taktisch unklug, dass Chinas Staatspräsident Xi Jinping nicht selbst, sondern nur der Premierminister Li Qiang zum G20-Gipfel nach Indien angereist ist. Wer nicht dabei ist, kann eben auch nicht mitverhandeln. Xi wollte wohl deutlich machen, dass das G20-Format aus seiner Sicht an Bedeutung verloren hat. Er setzt mehr auf BRICS plus, wo er glaubt, die Kontrolle und das Sagen zu haben.
Doch denkt der indische Ministerpräsident Narendra Modi keine Nanosekunde daran, sich von China bevormunden zu lassen. Er nutzte den G20-Gipfel in Neu-Delhi, um Indiens Ambitionen auf einen Platz an der geopolitischen Sonne unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Den alten „Kolonialnamen“ Indien zugunsten des Vorkolonialnamens „Bharat“ abzulegen, unterstreicht das neue Selbstbewusstsein.
Gemäß dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ kann sich Modi der Unterstützung Amerikas sicher sein. Alles, was China schwächt, erfreut Amerika wie ein Krokodil, dass am Flussufer einen wassertrinkenden Büffel entdeckt. Und so geht man eine Art Allianz ein, eine Zweck-Ehe.
Zunächst will man mit der Aufnahme der Afrikanischen Union als vollwertiges Mitglied der G20 den globalen Süden nicht mehr allein China überlassen. Weltbank und Internationaler Währungsfonds sollen Schwellen- und Entwicklungsländern eine alternative Finanzierung anbieten, die weniger knebelhaft ausfällt.
Ein wirklicher geopolitischer Schlag gegen China wäre aber der Mega-Infrastrukturplan - eine Art „Alternativ-Seidenstraßen-Konzept“ - unter Beteiligung der USA, Saudi-Arabiens, der EU, der Vereinigten Arabischen Emirate und Indiens. Es entstünde ein gigantischer Handelsraum, der Europa mit dem Nahen Osten und Indien verbindet.
Konkret sollen verlässliche und kosteneffiziente Schiff-Schiene-Transitnetze entstehen. Daneben sollen Kabel für die Stromversorgung und die digitale Vernetzung der beteiligten Länder verlegt werden. Nicht zuletzt geht es um einen der Herzenswünsche Indiens: Export von Wasserstoff. Aufgrund seiner umfangreichen Solarkapazitäten hat das Land bei der Produktion von mit grünem Strom erzeugtem Wasserstoff gigantische Potenziale. Damit kann es nicht zuletzt in puncto Klimaschutz gegen die deutlich fossilere Energiepolitik Chinas punkten.
Sicher, das neue Megaprojekt zeigt, dass die Welt verstanden hat, dass man China nicht freie Bahn gewähren darf. Und nach der Isolationspolitik von Trump hat Amerika wieder die Bedeutung von Einfluss auf die Weltpolitik erkannt.
Doch sollten die USA sich nicht täuschen. Eine Rückkehr als Alleinherrscher auf der Weltbühne wird es nicht geben. Indien hat also nicht die Seiten Richtung Amerika gewechselt. Und viele Entwicklungs- und Schwellenländer wollen sich nicht entweder für den Westen oder China entscheiden, sondern für beide, je nachdem, wer ihnen den größten wirtschaftlichen und geopolitischen Vorteil bietet. Der Westen muss sich also anstrengen. Aus dem Gebieter wird der Partner.
Apropos anstrengen, das aktuelle Zeitfenster der Schwäche Chinas und Pekings Angst vor Isolation sollte Europa nutzen. Faire Wettbewerbs- und attraktive Handelsbedingungen sollten mit Schmackes eingefordert werden.
Vor allem aber sollte sich die europäische Braut nicht nur mit Gutmensch-Allüren beschäftigen, sondern sich mit Standortverbesserung und Produktivität, kurz Wirtschaftskompetenz schmücken. Denn nur so macht man sich geopolitisch und wirtschaftlich attraktiv.
Leider ist dieser Befreiungsschlag zurzeit nur Utopie.
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